Spuren eines Pohler Familienvaters

Zeitgeschichte am Beispiel einer Familie, einer Bäckerei und eines Kolonialwarengeschäftes.

stahlheberDie Gründung der Pohler Bäckerei Stahlheber, der Einrichtung des Lebensmittelgeschäftes Stahlheber/Perabo, die Poststation, der Sparkassendienst in Pohl, die Pohler Kirchenorgel, der Bau der Stallungen und Nebengebäude an der alten Volksschule – sie alle gehen auf Wilhelm Stahlheber zurück.

Am 31.01.1858 in Dehrn bei Limburg geboren, ließ er sich zum Lehrer ausbilden und kam im Sommer 1886 nach Dienstjahren in Attenhausen, Frankfurt-Niederrad und Winden an die Volksschule nach Pohl. Er trat seinen Dienst engagiert an, musste ihn aber viel zu früh beenden: Eine hartnäckige Halserkrankung führte bereits 1 1/2 Jahr später zur Frühpensionierung des knapp 30jährigen Lehrers. Mit seiner schwangeren Frau und drei Söhnen sowie einer Pension von 450 Mark stand er nunmehr auf der Straße, da er die kleine Lehrerwohnung in der Pohler Volksschule an seinen Nachfolger abtreten musste.

Hilfe in dieser Notsituation kam von Philipp Michel, der in seinem kleinen Häuschen (Anwesen Michel/Beeres, heute Karl Bremser) zwei Zimmer unterm Dach anbot. Wilhelm Stahlheber begann nun den Aufbau einer neuen Existenz, um sich und die Seinen ernähren zu können. Im Hause des Schusters Adam Klein („Unneschusters“) richtete er sich in einer Stubenecke neben der Schusterwerkstatt ein winziges Geschäftchen ein und verkaufte Kleinigkeiten des täglichen Bedarfs. Gleichzeitig begann er dem Hause Klein gegenüber ein Einfamilienhaus (Haus Stahlheber/Perabo, Taunusstraße 1) zu errichten. Unter Anleitung eines Backsteinbrenners aus Oberfischbach lernte er Backsteine zu brennen. Das Material dafür kam aus dem Erdaushub für den Keller und aus der „Lahmkaut“ am Kirchweg.

Etwa 1892 konnte er mit seiner Familie im Neubau, zu dem für eine kleine Landwirtschaft auch Stall und Scheune gebaut wurden, einziehen. Aber es gab auch schreckliche Rückschläge. Zu den Söhnen Alois (1882), Julius (1884), Josef (1885) und Wilhelm (1888) waren noch die Söhne Franz (1892) und Clemens (1896) gekommen. Ein siebter Sohn Georg (1898) verstarb auf Tag und Stunde genau ein Jahr nach seiner Geburt, und am 23. August 1900 war auch seine Frau Margarethe Stahlheber geborene Hübel, gerade mal 40 Jahre alt, tot.

Unermüdlich rackerte Wilhelm Stahlheber weiter, um auch seinen Söhnen die Existenz zu sichern. In seiner Kolonialwarenhandlung, die jetzt in einem Raum des neuen Hauses eingerichtet war, versorgten sich zwar die Bauern aus Pohl und der näheren Umgebung mit den notwendigsten Lebensmitteln und Haushaltswaren, mit Kuhketten und Wandfarbe; aber zur Unterhaltssicherung reichte das in jenen armen Zeiten kaum. Neben der Landwirtschaft half der Verkauf von Bienenhonig in diesen Jahren über die größte Not. Als Lehrer hatte er im Pohler Schulgarten ein Bienenhaus errichtet und mit der Imkerei begonnen. Das führte er jetzt weiter. Gleichzeitig bemühte er sich für Pohl um eine eigene Postagentur, die dem katholischen Dorf lange tatsächlich aus konfessionellen Gründen lange verweigert worden war. 1906 kam endlich die Genehmigung dafür aus Berlin und so wurde sie in einem Raum neben dem Geschäft eingerichtet, der gleichzeitig auch als Zweigstelle der Nassauischen Landesbank diente.

Der tieffromme Katholik bemühte sich darüber hinaus um die Anschaffung einer Orgel für die damals noch neue, aber relativ ärmlich ausgestattete Pohler Pfarrkirche. Als diese endlich finanziert und eingebaut war, wurde er ihr erster Organist. Zu wichtigen kirchlichen Ereignissen lief er aber auch häufig die Kilometer zum Kloster Arnstein hinunter, um auch dort die Orgel zu spielen oder den Gottesdienst auf seiner Geige zu begleiten.

Mit seinen Söhnen errichtete er aus selbstgebrannten Backsteinen unter Anleitung des Maurers Weiss etwa um 1910 gegenüber der Pohler Kirche eine Bäckerei. Die Zahl der Pohler, die im alten Rathausbackes nicht selbst backten, war größer geworden, und oft hatten sich die Lehrerssöhne ein paar Pfennige dadurch verdient, dass sie nach Miehlen gelaufen waren, um dort Brot für andere einzukaufen. Die Söhne Josef und Wilhelm hatten 1906 freiwillig den Militärdienst in Diez angetreten, um ihn schnell hinter sich zu haben und am Aufbau einer eigenen Existenz arbeiten zu können. Der am 19.09.1888 geborene Sohn Wilhelm hatte in Dehrn Bäcker gelernt, in Andernach als Geselle gearbeitet und mit 22 Jahren bereits seine Meisterprüfung abgelegt. Er betrieb nun die neue Pohler Bäckerei neben der Kirche und begann 1912 mit dem Bau des dazugehörenden Wohnhauses. Sein Rundbrot und seine Wecken waren bald auch in den Nachbardörfern gefragt. Ein Lehrbub (Kaiser aus Bärscheid) und ein älterer Geselle (aus Montabaur) wurden eingestellt. Sie schliefen in dem winzigen Dachboden über der Backstube. Dennoch müssen die Arbeitsbedingungen gut gewesen sein, denn man erzählt sich noch heute, dass die drei während ihrer Arbeit ständig laut und weit vernehmbar gesungen haben.

Der nächste Schicksalsschlag ließ nicht lange auf sich warten. Der Erste Weltkrieg brach auch über Pohl und über die Familie des Lehrers Stahlheber herein. Einer der ersten Soldaten, die in diesem Krieg umkamen, war 1914 sein Sohn Josef. Er wurde in Lechne bei Sedan (Frankreich) verwundet und starb kurz darauf im „Königlich Preussischen Garnisonlazarett Trier“ am Wundstarrkrampf – unmittelbar danach wurden alle deutschen Soldaten und Kriegsgefangenen dagegen geimpft. Auf eigene Kosten holte nun der Vater seinen toten Sohn per Bahn von Trier nach Nassau und mit einem von Kühen gezogenen Fuhrwerk von Nassau nach Pohl heim. Unter dem großen Grabstein mit dem Soldatenhelm, nicht weit von den Gräbern seiner Frau und seines jüngsten Sohnes begrub er nun seinen Sohn Josef. Er hatte ein Leben lang und bis zum Letzten „dem Kaiser gegeben, was des Kaisers ist, und Gott gegeben, was Gottes ist“.

Für seinen Gemeinschaftssinn und seine Frömmigkeit gab es über die Kindererziehung und den regelmäßigen Kirchgang hinaus auch äußere Zeichen: Die Übernahme des Bürgermeisteramtes von 1909-1912, sein selbstverständlicher Dienst als Organist oder das bunte Kirchenfenster mit dem Marienbild, das er – obwohl nie reich geworden – 1910 gestiftet hatte (Ein weiteres Kirchenfenster mit einem Lourdes-Motiv wurde 1929 von seinem Sohn Julius gestiftet, ein drittes später von Anna Stahlheber. Die Bilder, die unter großen Opfern gespendet worden waren und den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten, verschwanden auf mysteriöse Weise bei den Kirchenrenovierungen der 60er Jahre).

Der alte Lehrer hatte seinen Söhnen strikt verboten, ebenfalls Lehrer zu werden. Sie sollten krisenfeste Berufe erlernen, „die auch ihren Mann ernähren“, und er erreichte das letztlich auch: Sohn Alois lernte bei den Steyler Missionaren in Simplveld (Holland) Lithographie, kam dann aber wegen einer Augenverletzung zurück, ging zum Militär und danach zur Post in Frankfurt. Clemens baute eine Gärtnerei in Koblenz auf, die ursprünglich der gefallene Bruder Josef hatte übernehmen sollen. Franz übernahm eine Metzgerei in Nastätten, Wilhelm wurde Bäcker, Julius führte mit seiner Frau Anna geb. Kaiser das Kolonialwarengeschäft, die Poststelle und die kleine Landwirtschaft in Pohl.

Am 7.7.1929 war das arbeitsreiche Leben des alten Lehrers zu Ende. Er starb im Hause seines Sohnes Julius, der selbst nur noch ein halbes Jahr zu leben hatte. Er folgte seinem Vater am 3.1.1930. Um Post und Laden halten zu können, kam nun die Schwester con Julius` Frau Anna, Maria („Klocke Marri“), regelmäßig vorbei und half. Um die Landwirtschaft kümmerte sich Anton Kaiser II („Anne Anton“ aus „Anne Häusje“ unterhalb von „Unnearends“). Die beiden heirateten Anfang der dreißiger Jahre, die „Marri“ kam aber bereits am 28. August 1936 bei einem Unfall in der Landwirtschaft ums Leben: Es hieß, beim Einholen von Klee habe sie auf dem Wagen gestanden und die Kühe hätten diesen plötztlich ruckartig nach vorne bewegt. Sie sei rückwärts vom Wagen in eine umgefallene Heugabel gefallen. Kurz darauf war sie ihren Verletzungen erlegen.

Seit 1935 plante Alois Stahlheber mit seiner Frau Katharina Stahlheber geb. Schindler und den Töchtern Hilde und Kordula ihren Umzug aus Frankfurt nach Pohl. Er wird als liebenswerter, eher ruhiger Mann geschildert, von dem man sich kaum vorstellen konnte, dass er bereits vor dem Ersten Weltkrieg Soldat und später hochdekoriert war. Alois Stahlheber baute in dieser Zeit bereits in Eigenleistung das Haus seines Vaters an, das damals den charakteristischen Torbogen erhielt. 1935 zog die Familie in das fast leer gewordene Haus. Aber bereits nach wenigen Wochen, am 8.12.1935, war auch Alois Stahlheber. Anna Stahlheber führte Geschäft und Post bis zu ihrem Tod 1950 weiter. Dann wurde das Haus von der Familie Perabo weitergeführt. Hilde Perabo, die ja seit 1935 im Hause wohnte und nach ihrer Heirat 1947 mit ihrem Mann nach Limburg gezogen war, übernahm jetzt die Poststelle. Ihr Mann Aloys Perabo übernahm das Geschäft, übte aber auch weiterhin seinen Beruf als Dachdecker in Limburg aus.

Das Haus wurde in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer wichtigen, zentralen Einrichtung in Pohl, da sich hier die gesamte Bevölkerung und viele Menschen der umliegenden Dörfer und Mühlen zum Einkauf oder zur Abholung von Post, Renten oder Fahrkarten trafen. Da Pohl über keine eigene Metzgerei verfügte, wurden Wurst und Fleisch auf Bestellung von der Nastätter Metzgerei Franz Stahlheber mit der Postauto angeliefert und über das Geschäft an die Kundschaft weitergeleitet. Als sich zu Beginn der siebziger Jahre die Strukturen des einst so landwirtschaftlich geprägten Ortes grundlegend wandelten, als im Zuge der zunehmenden Motorisierung immer mehr Menschen ihre Arbeit in der Umgebung suchten und immer mehr Bauernhöfe verschwanden, verschwand auch der so selbstverständlich gewordene Laden im Oberdorf. Das Geschäft, dessen Seele bis zuletzt Katharina Stahlheber gewesen war, wurde 1974 aufgelöst, die Poststelle wurde Pohl nach dem Tod von Hilde Perabo 1981 genommen.

Der Bäcker Wilhelm Stahlheber war wegen einer Verletzung, die er sich während seiner Gesellenzeit in Andernach zugezogen hatte, und zur Versorgung der heimischen Bevölkerung vom Militärdienst im Ersten Weltkrieg frei gestellt worden, hatte sich aber zuletzt freiwillig gemeldet, um dem Vorwurf der „Drückebergerei“ zu entgehen. Erst 1918 konnte er wieder seinem Beruf nachgehen und sein Wohnhaus fertig stellen. Zum Bau des vorgesehenen Brunnens, der eigentlich zu jedem Haus gehörte, kam es allerdings nicht mehr. Das beim Bau im Haushalt, im Stall und in der Bäckerei benötigte Wasser wurde bis zur Einrichtung der zentralen Wasserversorgung in Pohl 1929 mühsam Eimer für Eimer aus dem Brunnen am Hause Julius Stahlheber oder am Brunnen des Pfarrhauses geholt.

Am 5. Januar 1921 heiratete der Bäcker Wilhelm Stahlheber Katharina Reusch aus Roth. Das Haus füllte sich schnell: Aus der Ehe gingen die Kinder Clara, Maria, Josef, Helena, Mechthild und Raimund hervor, am Tisch saßen aber meist auch Alois Bilo, der 27 Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg für die Familie die Landwirtschaft besorgte, und Willi Abt, der als Bäckerlehrling angefangen hatte und auch als Meister noch blieb. Auch die Bäckerei wurde zunehmend zu einer Drehscheibe und einem Treffpunkt für die Bevölkerung; dafür sorgte schon die Nähe zum Lebensmittel- und Kolonialwarengeschäft, zur Kirche, zum Schuster und zu den Bushaltestellen. Während die einen ihr Brot hier kauften, tauschten die Bauern meist ihr Brot nur ein. Sie gaben Mehl, das aus ihrem Getreide beim „Hollemüller“ (Uhusmühle), auf der „Arztemühl“ (Loring) oder auf der Neumühle bei Attenhausen gemahlen worden war, und nahmen Rundbrot oder die entsprechende Menge an Brotmärkchen mit. Zum Sortiment gehörten neben dem üblichen Roggenbrot noch Mischbrot, Wasser-Weißbrot und Milch-Weißbrot, Grießplatz, Brötchen, Kaffeestückchen und auch der beliebte Lebkuchen.

Neben der Kundschaft, die in die Bäckerei kam, gab es auch eine Kundschaft in den Nachbardörfern Lollschied, Niedertiefenbach, Roth und Obertiefenbach, zu denen das Brot gebracht wurde. Mit Fuhrwerken, mit Kuh- und später Pferdegespannen fuhren Trempers, Himmighofens („Vollmersch“) oder Eids das Brot über Land, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dies von Sohn Raimund selbst besorgt. In den fünfziger Jahren fuhr man das Brot mit dem „Alldog“ aus, einem Traktor mit einer Ladefläche vor dem Führerhaus, etwa ab 1960 mit einem Kleinbus.

In dem kleinen, und über Jahrhunderte hinweg armen und oft recht verschlafenen Ort Pohl hat es immer wieder auch Persönlichkeiten gegeben, die über den eigenen Bedarf hinaus gelebt und gearbeitet haben. Zu denen, die gradlinig und überzeugend, verantwortungsvoll und pflichtbewußt ihren Weg gegangen sind, die allen Schicksalsschlägen zum Trotz sich und andere immer wieder aufgerichtet haben, und deren Spuren über Generationen hinweg bis zum heutigen Tag sichtbar geblieben sind, gehörte ganz sicher auch der Pohler Lehrer Wilhelm Stahlheber.

(A. Perabo, 2003)